Unabhängigkeit Schottlands
Wird Schottland schon bald eine unabhängige Nation? Nach dem Brexit hoffen die Nationalisten auf Rückenwind für ihre Pläne, Schottland in die Unabhängigkeit zu führen.
Wird Schottland in Zukunft ein eigenständiger Staat mit einer eigenen Währung, einer eigenen Armee und Botschaften auf der ganzen Welt? Derzeit gehört Schottland gemeinsam mit England, Wales und Nordirland noch zum Vereinten Königreich. Doch im September 2014 fand ein Referendum über die Unabhängigkeit Schottlands statt. Die Mehrheit der Schotten, rund 55 Prozent, entschieden sich für den Verbleib ihres Landes im Vereinten Königreich. Trotz dieser scheinbaren Niederlage hat der Volksentscheid den Nationalisten ungeahnten Auftrieb verschafft. Sie stellten zuletzt die Regierung und verzeichneten nach dem Referendum einen gewaltigen Zulauf.
Die SNP stammt aus einem Zusammenschluss mehrerer politischer Organisationen und Vereine in den 1920- und 1930er Jahren. Mit der offiziellen Gründung im Jahr 1934 entstand eine Partei, die das schottische Nationalbewusstsein verkörperte und größere Autonomie forderte. Heutzutage verbindet die SNP das schottische Nationalbewusstsein mit Themen wie sozialer Gerechtigkeit und dem Ende der Sparpolitik. Sozialausgaben sollen nicht gekürzt oder gestrichen werden. Außerdem sollen die britischen Atom-U-Boote, die derzeit an der schottischen Westküste liegen, lieber heute als morgen aus den schottischen Gewässern verschwinden.
Mit Dudelsack oder Schottenrock, den Symbolen der Highlands, hat dieser moderne Nationalismus aber nichts mehr zu tun. Dafür sorgte die einsetzende Industrialisierung im späten 18. Jahrhundert. Sie stellte das alte Schottland, das geprägt war von der Landwirtschaft und kleinen Selbstversorgerbetrieben, völlig auf den Kopf. In nur zwei Generationen wurde Schottland zu einem der am meisten industrialisierten Länder Europas. Die Stadt Glasgow ist in dieser Hinsicht vergleichbar nur mit dem Ruhrgebiet oder der Metropole London. Mit der industriellen Revolution wurden die Bindungen an das alte Schottland, die Kultur der Highlands und Clans, weitgehend gekappt.
Im Jahr 1707 schlossen sich Schotten und Engländer zum Vereinten Königreich zusammen. Eine Herzensangelegenheit war der Bund mit England allerdings nicht. Tatsächlich war Schottland bei seinem Wechsel in die Union so gut wie pleite. Die Schotten hatten sich den teuren Luxus geleistet, ihre Hände nach eigenen Kolonien in Panama auszustrecken. Das Projekt verschlang Millionen und scheiterte am Ende kläglich.
Mit der Union konnten die Schotten unter die Fittiche der wirtschaftlich starken Engländer schlüpfen. Als bei den Beratungen ein schottischer Unterhändler vom Mord an der mythischen schottischen Mutter Caledonia sprach, wies ihn ein anderer Abgesandter zurecht: Im Grunde gehe es doch immer nur darum, wer am Ende die Rechnung bezahle. Und das war London.
Die Union bot vielen Schotten im 19. Jahrhundert die Möglichkeit zu sozialem Aufstieg und sicherte ihnen einflussreiche Posten im britischen Empire. Doch gerade in den ländlichen Regionen und außerhalb der städtischen Metropolen wie Edinburgh und Glasgow erzählten sich die Menschen die Geschichten von schottischen Freiheitskämpfern oder dem von vielen verehrten König Robert Bruce. Schriftsteller wie Sir Walter Scott ließen die Vergangenheit in einem geradezu magischen Schimmer leuchten. Ob Schottenrock oder Dudelsack, je britischer die Schotten werden, umso mehr suchten sie nach Symbolen, um ihre Besonderheit im British Empire zu unterstreichen.
Dieser Dualismus, das Schottischsein ebenso wie die Rolle der Schotten als britische Staatsbürger, hat ihren Ausdruck auch in der Architektur gefunden. Ein gutes Beispiel dafür ist das William Wallace Monument in der Nähe der Stadt Stirling. Der Schotte Wallace, dessen Schicksal durch den Hollywood-Film „Braveheart“ bekannt geworden ist, kämpfte im 14. Jahrhundert gegen England. Zu jener Zeit herrschte in Schottland ein politisches Machtvakuum, das sich der englische König Edward I auf grausame Weise zu Nutze machte. Wallace führte den Aufstand gegen Edward I an, und im Jahr 1297 kam es bei Stirling zu der entscheidenden Schlacht zwischen beiden Heeren. Wallace ging als Sieger aus dieser Schlacht hervor. Er wurde einige Jahre später in London hingerichtet.
Das gleichnamige Monument bei Stirling dagegen wurde nicht etwa im 14. Jahrhundert gebaut, um William Wallace zu unterstützen. Es entstand um 1869. Das war zu einem Zeitpunkt, als Engländer und Schotten sich längst zu einem Vereinten Königreich zusammengefunden hatten. Mitte des 19. Jahrhunderts waren das Bekenntnis und die Zustimmung zur Union in Schottland sogar auf ihrem Höhepunkt. Das Monument verbindet den Baustil der alten schottischen Burgen aus den früheren Jahrhunderten mit den Moden des 19. Jahrhunderts. Es zeigt damit die besondere Herausforderung, vor der viele Schotten standen: Sie wollten die Chancen nutzen, die ihnen das British Empire politisch und wirtschaftlich bot – und gleichzeitig ihre emotionale Bindung an die alte Zeit der Clans nicht verlieren. So gesehen ist das William Wallace Monument ein Bindeglied zwischen der „Britishness“ des 19. Jahrhunderts und der „Scottishness“, wie sie vor der Union im Jahr 1707 bestanden hatte.
Inzwischen sind Engländer und Schotten seit mehr als 300 Jahren in einer Union vereint. Sie sprechen die gleiche Sprache, sie blicken zurück auf mehr als 300 Jahre gemeinsamer Geschichte. Engländer und Schotten haben nebeneinander in zwei Weltkriegen gekämpft, sie teilen die gleichen Werte. Ist das nicht mehr genug, um in einem Königreich vereint zu sein? Wohin steuert die Union?
Der moderne schottische Nationalismus wird oft auch als eine Form des „civic nationalism“ bezeichnet: Er macht sich nicht fest an kulturellen oder sprachlichen Unterschieden, wie das in vielen anderen Ländern, etwa in Kanada oder Spanien, der Fall ist. Für viele Schotten führt nationale Selbstbestimmung demnach zu einer besseren Gesellschaft oder besseren Lebensbedingungen, die allen Menschen im Land zugute kommen. Im Unabhängigkeitsreferendum von 2014 ging es nach Aussagen von Sozialwissenschaftlern nicht allein darum, ob Schottland künftig ein selbständiger Staat sei. Es standen auch ganz pragmatische Frage im Raum nach der besseren Politik für Schottland und ganz Großbritannien. Die SNP-Wähler wünschen sich von den Nationalisten eine starke linksgerichetete Opposition gegen die britische Regierung in London.
Schottland war über Jahrzehnte das Stammland der linksgerichteten Labour-Party. Doch Labour hat massiv verloren und damit ein Vakuum hinterlassen, das die schottische Nationalisten nun besetzt haben. Bereits in den 60er Jahren vollzog die SNP einen erstaunlichen Wandel. Es gelang ihr, sich so zu organisieren, dass sie eine erst zu nehmende politische Kraft wurde. Als in den 1970er Jahren in der Nordsee Öl entdeckt wurde, spielte das der SNP in die Hand. Die Stadt Aberdeen wurde ein Zentrum für die Erdölindustrie, wie es in Europa kaum ein zweites gibt. Das Selbstbewusstsein der Schotten wuchs. Und die Nationalisten waren bestens gerüstet, um aus dem Nordseeöl politischen Profit zu schlagen.
Um den Nationalisten den Wind aus den Segeln zu nehmen, stimmte die britische Regierung unter Premierminister Tony Blair einer Volksabstimmung zu: In der schottischen Hauptstadt Edinburgh sollte nach fast 300 Jahren wieder ein Parlament für Schottland entstehen. Labour hoffte, mit diesem Zugeständnis das Vereinte Königreich zu stärken und dabei trotzdem die nationale Gesetzgebungskompetenz in Westminster zu belassen. Das britische Parlament sollte auch weiterhin die Möglichkeit haben, Gesetze auch für Schottland zu machen. Trotz dieser eingeschränkte Befugnisse sprachen sich bei der Abstimmung im Jahr 1997 mehr als 74 Prozent der Wahlberechtigten für ein Parlament mit begrenzten Autonomierechten aus.
Rückblickend kann man sagen, dass die Labour-Spitze im fernen London die Dynamik unterschätzt hat, die die Volksabstimmung und das neue Parlament in Schottland auslösten. Die Rechnung der Labour-Regierung von Tony Blair ging nicht auf. Statt die Union zu schützen, hatte das Parlament weitere Begehrlichkeiten geweckt. Und nicht nur das: Die Nationalisten nutzen die Schwäche ihrer einstigen Wegbereiter voll aus und jagten der Labour Party in den folgenden Jahrzehnten jede Menge Stimme ab. Die Debatte um schottische Unabhängigkeit ist seit dem September 2014 keineswegs verstummt. Laut einer Untersuchung der Universität Edinburgh von 2014 geht die Mehrheit der Briten davon aus, dass Schottland die Union früher oder später verlassen wird.